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Am Anfang ist der Unterschied

Erschienen in „Tibet und Buddhismus“ (Heft 126)

Roman Jakobson und die Prager Schule

Wenn man der Sprache bei der Frage, was Wirklichkeit eigentlich ist oder entstehen läßt, eine oder sogar die entscheidende Rolle einräumt, wird man sich vermutlich auch die Frage stellen, wann und wie es eigentlich beginnt, dass sich die Welt um uns auch in uns erschließt.

Wenn wir auf die Welt kommen, können wir wohl schon kommunizieren, aber nicht auf eine Weise, wie es Menschen tun, die eine entwickelte Sprache besitzen. Der russische Linguist und Mitbegründer des Strukturalismus Roman Jakobson hat dazu in der ersten Hälfte es 20. Jahrhunderts einen maßgeblichen Vorschlag erarbeitet, den er in seinem 1944 erschienenen berühmten Buch “Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze” erläutert hat. Dieser machte ihn in Europa zusammen mit Nicolaj Trubetzkoj zum Vater der modernen Phonologie.

Jakobson und Trubetzkoj waren neben anderen Begründer der sogenannten “Prager Schule”, einem Kreis von Linguisten, die sich auf der Grundlage phonetischer Untersuchungen mit der Erforschung der phonologischen Grundlagen der Sprache beschäftigten. Die Phonologie schaut im Gegensatz zur Phonetik auf die Funktion einzelner Laute im System einer Sprache, wohingegen die Phonetik sich mit der akustischen Beschaffenheit oder den artikulatorischen Grundlagen einzelner Laut beschäftigt. Jakobsons zentrale wissenschaftliche Leistung bestand darin nachzuweisen, dass den – in den verschiedene Sprachen der Welt sehr unterschiedlichen – Lautsystemen Strukturgesetze zugrunde liegen, die sich allgemein formulieren und dann auch wieder verifizieren lassen. In den Worten Jakobsons repräsentiert jeder Sprachlaut “einen Komplex von distinktiven Eigenschaften und jede von diesen Eigenschaften fungiert als Glied einer binären Opposition, welche das entgegengesetzte Glied notwendig impliziert”. Diese Eigenschaften seien universell und ließen sich in allen Sprachen rekonstruieren. Es verwundert nicht, dass dieser ja eher naturwissenschaftliche Ansatz großen Einfluss auf die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts hatte und zu einem zentralen Auslöser des Strukturalismus wurde.

Was genau sind nun diese distinktiven Eigenschaften und wie lassen sie sich identifizieren ?

Kindersprache und Aphasie

Um mit der zweiten Frage zu beginnen ist es natürlich eine naheliegende Möglichkeit den Spracherwerb von Säuglingen und Kleinkindern zu beobachten. So läßt Jakobson seine Untersuchung mit einem Zitat Karl Bühlers beginnen, der genau diesen Ansatz empfiehlt.

Diese Vorgehensweise war bei Sprachwissenschaftlern seinerzeit sehr verbreitet und Jakobson kann sich im Laufe seiner Untersuchung auch auf viele Beobachtungen seiner Kollegen stützen. Er ergänzte jedoch eine zweite Perspektive und zwar diejenige des Sprachverlustes bei pathologischen Sprachstörungen, der Aphasie. Hier gab es wenig Erfahrungen und auch eine gewisse Ratlosigkeit der zuständigen Wissenschaften (Neurologie, Psychiatrie) wie die verschiedenen Arten des Sprachverlustes systematisiert werden könnten. Jakobson beklagt eine “erstaunliche Umaufmerksamkeit” bei der “Beschreibung und Analyse konkreter sprachlicher und insbesondere lautlicher Tatsachen”.

Um es jetzt schon zu verraten und weil es gleich mehr um den kindlichen Spracherwerb gehen soll, ihm wird es im Laufe seiner Untersuchung gelingen, signifikante Ähnlichkeiten herauszuarbeiten, zwischen einerseits dem frühkindlichen Spracherwerb und andererseits dem Sprachverlust bei Aphasikern. So verlieren Aphasiker diejenigen Sprachfähigkeiten zuletzt, die Kleinkinder als erstes zu verwenden lernen. Es scheint also auch eine bestimmte Reihenfolge zu geben, in der sich (das System) Sprache auf- und auch wieder abbaut.

Beobachtungen

Kommen wir zu den distinktiven Eigenschaften selbst, den Bausteinen, die nach Jakobson dem System Sprache zugrunde liegen und die sich in allen Sprachen nachweisen lassen. Beginnen wir mit zwei Beobachtungen: Wenn man im Internet danach sucht, wie Kinder in den verschiedenen Sprachen der Welt ihre Eltern benennen, welche Lautfolge sie verwenden, wird man zu einem überraschenden Ergebnis kommen. Kinder tun dies weltweit auf sehr ähnliche Weise, nämlich in der Regel mit einer Lautfolge die in etwa so klingt wie das deutsche Mama/ Papa. Da Sprachen ansonsten sehr unterschiedlich sind und sehr unterschiedlich funktionieren könnte das verwundern. Und warum sind es diese Laute und nicht andere ?

Zum zweiten mag man selbst vielleicht bei den eigenen Kindern schon beobachtet haben, dass Säuglinge zu Beginn ihrer sprachlichen Entwicklung – in ihrer Lallphase – in der Lage sind nahezu jeden Laut zu artikulieren, also alles Mögliche physiologisch hervorzubringen oder auch nachzuahmen. Später aber, als Kleinkinder, können sie dann manchmal über Jahre hinweg bestimmte Laute in bestimmten Worten nicht oder nur falsch aussprechen. Es scheint also einen Unterschied zu geben, zwischen der physiologischen Befähigung, bestimmte Laute zu artikulieren und ihrer Verwendung innerhalb eines Systems einer Sprache.

Der Beginn von Sprache

Die Erklärung der ersten Beobachtung folgt einer Art evolutionärem Pragmatismus: Der sich in ständiger nichtsprachlicher Kommunikation befindende Säugling probiert unbewußt Laute aus, ahmt diese nach und spiegelt alles, was die sprechenden Wesen um ihn herum tun.

Dabei etabliert sich als erstes dann das, was am einfachsten scheint: die Öffnung des Mundes einerseits und der Verschluss andererseits – sozusagen ein initialer maximaler Unterschied. Zusammen mit dem noch keine Bedeutung tragendem Lallen, oder “Gurren” der vorsprachlichen Phase, wie es Jakobson auch nennt, ergibt sich quasi automatisch ein erster auch systematischer Unterschied oder Gegensatz, und zwar der zwischen Konsonant (bei Verschluss des Mundes) und dem Vokal (bei der Öffnung.)

Das sicherlich erst nur ”technisch”, also ganz ohne eine etablierte Funktion innerhalb eines Systems zu haben – und der Säugling weiß wohl auch nichts davon. Dennoch haben wir zusammen mit ihm einen ersten wichtigen Schritt Richtung Sprache getan.

Im nächsten Schritt, vermutlich bestärkt durch das positive Feedback der Umgebung, wird der Säugling das Spiel der Lautgebung mit Öffnung und Verschluss fortsetzen und dabei irgendwann die Laute kurz hintereinander verwenden, was dann im Deutschen in das heiß ersehnte erste “m-a-m-a” verdoppelt wird, allerdings erstmal nur durch und dann auch für die lauschende Umgebung. Der Säugling selbst macht dabei unbewußt eine ganz besondere Entdeckung – und zwar die der Silbe. Er erlernt das Verhältnis des “Nacheinander”, das Jakobson mit anderen syntagmatisch nennt. Das ist eine fulminant wichtige Entdeckung, denn Laute werden eben nacheinander geäußert und bilden Silben, Worte, Sätze.

Doch es fehlt immer noch etwas Entscheidendes, wie gesagt, die Silbenfolge trägt für den Säugling noch keine Bedeutung im Sinne einer Referenz auf die Außenwelt. Er wird sie in der Regel mit großer Begeisterung endlos wiederholend verwenden, allerdings für alles Mögliche (also durchaus auch für die sich freuende Mutter).

Was noch fehlt ist die sogenannte paradigmatische Achse, die des “statt einander”. Erst dadurch wird die bedeutungsbildende Funktion des Sprachlautes möglich. Und auch hier folgt der nächste Schritt einer Gegebenheit, die physiologisch naheliegt.

Der erlernte Verschlusslaut spaltet sich auf, in den schon bekannten, in dem die Luft noch durch die Nase entweichen kann (“m”, nasal), und einen zweiten, wo auch dieser Ausgang verschlossen wird (“p”, oral). Zusammen mit dem folgenden Vokal ergibt sich als neue Silbe dadurch neben dem “m-a-m-a” auch das “p-a-p-a”. Die Laute “a”, “m” und “p” entsprechen bezogen auf den Stimmapparat somit der vollständigen Öffnung, dem (stimmhaften) Verschluss und dem vollständigen (stimmlosen) Verschluss. Man kann auch sagen, dass diese sogenannte erste konsonantische Spaltung (oral/ nasal) analog demselben Prinzip folgt wie der Gegensatz, der die Unterscheidung Konsonant / Vokal etabliert: nämlich Verschluss oder Öffnung.

Diese Entdeckung muss jetzt nur noch “an den Mann” gebracht werden, sprich es braucht den Moment, in dem der Säugling bemerkt, dass er sich durch Veränderung seiner Laute auf unterschiedliche Dinge in der Welt beziehen kann; zum Beispiel dadurch, dass sich im Fall von Mama/ Papa mal das eine Wesen, mal das andere freut. Diesen Prozess im Detail zu beschreiben oder gar zu rekonstruieren ist sicherlich nicht so ohne weiteres möglich, wichtig ist aber, dass hier nun das alles Entscheidende passiert: Das Kind beginnt die Grundzüge des Systems Sprache anzuwenden und dadurch nach und nach zu verstehen, dass es sich über die Sprache auf die Welt beziehen kann.

Auch wenn dieses erste Sprachsystem nur sehr klein ist, enthält es systematisch schon alles, was in der weiteren Entwicklung hinzukommt. Es ist damit auch eine Art Initialzündung für das bewußte Denken, denn viel später wird der kleine Mensch eine der wichtigsten Referenzen seines Lebens entdecken, nämlich sich selbst als “ich”.

Dies hilft uns nun beide Beobachtungen vom Anfang besser zu verstehen, warum der Beginn der Sprache – bei gegebenen physiologischen Voraussetzungen – universell zu sein scheint und was den Unterschied ausmacht, zwischen der Fähigkeit, bestimmte Laute aussprechen zu können und der der Kompetenz, sie in einem System Sprache verwenden zu können. Denn nur wenn ein Laut Bedeutungen unterscheidet, hat er auch eine Funktion im System. Und er kann dies nur durch sein Verhältnis zu allen anderen Lauten.

Die finale konkrete Ausprägung ist dabei – vom initialen Anfang abgesehen – in den Sprachen der Welt sehr unterschiedlich. Welche Laute welche Bedeutungen unterscheiden hängt von den Referenzen ab, die zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer bestimmten Umgebung und in einer bestimmten Gruppe von Menschen wichtig waren, Relevanz zum Beispiel fürs Überleben hatten. Unter anderem deswegen sind die Sprachen der Welt so unterschiedlich und farbenfroh wie wir sie kennen.

Distinktive Eigenschaften und Sprache als System

Die Laute, die Bedeutungen unterscheiden, tun dies wegen bestimmter distinktiver Eigenschaften, Gegensatzpaare, die wie zum Beispiel oral/ nasal.

Der bedeutungsunterscheidende Laut ist, wie schon zitiert, nach Jakobson ein Komplex oder Bündel solcher distinktiver Eigenschaften. Hat das “p” für den Säugling zu Anfang nur die bedeutungsunterscheidende Qualität, im Gegensatz zu “m” oral statt nasal zu sein, wird das “p” im Laufe der Sprachentwicklung weitere Eigenschaften, zum Beispiel, dass es an der Lippe gebildet wird (labial) und nicht im Gaumen (guttural), hinzubekommen, um seine Funktion in der jeweiligen Sprache wahrnehmen zu können.

Von diesen Eigenschaften hat Jakobson in seiner Schrift noch viele weitere identifiziert und auch nachgewiesen, dass sich der Auf- und Abbau des Sprachsystems in allen Sprachen auf eine ähnliche Weise vollzieht, in Anlehnung an Husserl denselben “Gesetzen der Fundierung” folgt; so weißt er beispielsweise nach, dass in der sprachlichen Entwicklung des Kindes der Erwerb der hinteren Konsonanten (z. B. “k”) den der vorderen voraussetzt (z. B. „p”), aber nicht umgekehrt.

Den großen Einfluss, den seine Schrift über den Strukturalismus auf die Geistesgeschichte der folgenden Jahrzehnte hatte, habe ich zu Beginn schon erwähnt. Als Beispiel seien nur die berühmten anthropologischen Schriften von Claude Levi-Strauss genannt. Ansatz und Ergebnis seiner Untersuchung haben meines Erachtens aber viele Implikationen.

Auf der Grundlage der physischen Welt und naturwissenschaftlicher Methoden wird hier das Entstehen der Sprache als System erklärt. Unterschied und Gegensatz stehen am Anfang jedweder Möglichkeit von Bedeutung, die nur deswegen existiert und überhaupt entstehen kann, weil alles mit allem verbunden ist: der Körper mit dem Geist, die Laute untereinander im System der Sprache, die Sprache mit der Welt.

Quelle: Roman Jakobson, “Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze”, Suhrkamp 2010

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