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Logik und Konflikt

Erschienen in „Tibet und Buddhismus“ (Heft 127)

Bei Konflikten ist es ja in der Regel so, dass mindestens zwei Egos aufeinander stoßen, die sich dann nicht einigen können, wer Recht hat: bezüglich einer bestimmten Meinung, einem bestimmten Verhalten oder Gegenstand. Als Buddhisten haben wir da Glück, denn wir haben eine Lösung parat: Es handelt sich schlicht um das Problem des Anhaftens, das seine Ursache im falschen Verständnis der Wirklichkeit hat, welches die Leerheit nicht erkennt. Eigentlich ist da kein Ich, das hier gerade eindeutig benachteiligt wird und auf der anderen Seite ist auch keins, und der Gegenstand des Konflikts abhängig entstanden und mithin eben auch leer. Also warum streiten.

Leider kann ich diese Argumentationsführung für das häusliche Zusammenleben nur eingeschränkt empfehlen. Statt der klugen Erläuterung ist es oft  besser, mit Tatkraft die Spülmaschine auszuräumen oder einfach mal empathisch zuzustimmen, auch wenn die eigene Logik woanders hinführt.

Das mit der Logik ist eine spannende Sache, wenn alle der Logik folgen würden, müsste es ja eigentlich keine Konflikte mehr geben, denn die Logik ist eindeutig und wer dann nicht zustimmt, hat schlicht keine Ahnung.

Doch ist die Logik wirklich so etwas Essentielles, eine Art Urfunktion unseres Denkens, die es nur zu entdecken gilt ?

Die Logik kann man verstehen als eine Art und Weise, wie man aus Gegebenheiten Schlüsse zieht. Aristoteles war wohl derjenige, der sie als erster systematisch beschrieb und dabei insbesondere auf den sogenannten Syllogismus abhob: Alle Menschen sind sterblich / Alle Griechen sind Menschen / Alle Griechen sind sterblich. Ein berühmtes Beispiel und ein Ansatz, der erst über 2000 Jahre später durch die Mathematik und die Überlegungen Johann Gottlieb Freges weiterentwickelt wurde, ohne natürlich seine Gültigkeit zu verlieren. Denn diesem Schluss wird ja wohl jeder zustimmen, oder nicht ?

Walter J. Ong zitiert in seinem Buch Oralität und Literalität eine Feldstudie des russischen Neuropsychologen Alexander Luria aus den 30ger Jahren, bei der in entlegenen Regionen Kirgisiens und Usbekistans schwach oder gar nicht literalisierte Personen zu verschiedenen Dingen befragt wurden. Eine Frage an einen örtlichen Arbeiter war zum Beispiel:

Im hohen Norden, wo es Schnee gibt, sind die Bären weiß. Novaja Zemlja liegt im hohen Norden, dort liegt stets Schnee. Welche Farbe haben die Bären ?

Die Antwort des Arbeiters lautete: Ich weiß nicht. Ich habe einen schwarzen Bären gesehen. Andere kenne ich nicht (…). Jeder Ort hat seine eigenen Tiere.

In einem anderen Beispiel wurde die Frage: Edelmetalle rosten nicht. Gold ist ein Edelmetall. Rostet es ? mit einer Gegenfrage beantwortet: Rosten Edelmetalle oder rosten sie nicht ?

Ganz offensichtlich waren die Befragten nicht so ohne weiteres bereit, der uns so selbstverständlichen Methode der Schlussfolgerung zuzustimmen. Schnell ist dann ein intellektuelles Problem unterstellt – sicher einer der Gründe dafür, warum sich Menschen, die heute in unserer Gesellschaft nicht lesen und schreiben können, dafür oft schämen. Und sie haben es in der Tat besonders schwer, denn Sie leben als nicht oder schwach literalisierte Menschen in einer hochliteralisierten Gesellschaft. Die von Luria Befragten hingegen lebten in einer Umgebung, in der Lesen und Schreiben die Ausnahme war.

Ong beschreibt nun in seinem Buch sehr spannend, dass der Grund für diese Antworten natürlich nicht intellektueller Art ist. Ursache für die aus unserer Perspektive bemerkenswerten Antworten sei, dass diese Art des logischen Schließens nur in literalisierten Gesellschaften funktioniert, also Gesellschaften, die die Schrift kennen. 

Die Logik hat sich erst durch die Schrift entwickeln können, und diese wiederum ist aus der Sprache entstanden – auf unterschiedlichste Weise, so haben die Griechen zum Beispiel ein Alphabet, das haben ja nicht alle. Und es ist natürlich kein Zufall, dass der prominenteste Teil der griechischen Philosophie erst dann entstehen konnte, als es die Schrift gab. Platon, Lehrer des Aristoteles, war noch ein scharfer Kritiker der Schrift, er meinte, es sei eine mechanische, unmenschliche Art der Wissensvermittlung, die man nicht befragen könne und außerdem schwäche sie die Erinnerungskraft. Argumente, die überraschend gut auch ins digitale Zeitalter passen.

Und – natürlich brauchte Platon die Schrift, um über die Gedanken des Sokrates reflektieren zu können, der ja bekanntermaßen selber nichts aufgeschrieben hat.

Wer schreiben kann, scheint also anders zu denken, zumindest anders zu schließen. Ich unterstelle mal, die meisten von uns waren beispielsweise gerade der Meinung, besser zu wissen, welche Farbe Bären in Novaja Zemlja haben, als der zitierte Arbeiter vor Ort. Das ist auch bemerkenswert.

Gesellschaften, die die Schrift nicht kennen, sogenannte Orale Gesellschaften unterscheiden sich erheblich von literalisierten und ohne die Kenntnis dieser Unterscheidung kann einem einiges entgehen. Ein von Ong zitiertes prominentes Beispiel, das zeigt, wie sehr man in einem vertrauten Paradigma stecken bleiben kann, ist die Interpretation von Homers Schriften als Prototyp und Maßstab von allem, was als großartige Erzählung und vollendete Literatur gelten kann. Stattdessen, wie Milman Parry in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachwies, sind gerade die signifikanten Stilmittel der Werke Homers der Ökonomie geschuldet. Wann auch immer Ilias und Odyssee verschriftlicht worden sind, zuvor sind sie – so Parry – orale Erzählungen gewesen, und die musste man sich erstmal merken können.

Oralität benötigt sprachliche Hilfsmittel, mit denen sich Dinge leicht behalten, wieder- und weitergeben lassen. So sind Versmaß (Hexameter), Reime, Wiederholungen oder auch Attributierungen von Personen (Epitheta) solche Techniken, und dabei geht es nicht um Schönheit, sondern um das blanke Überleben von Wissen.

Denn alles, was vergessen wird, ist für immer verloren. Ohne diese Techniken, unterstützt von nichtsprachlichen Hilfsmitteln wie Mala oder Rosenkranz, kann das Wesentliche jedweder Überlieferung nicht immer und immer wieder neu entstehen – denn in oralen Gesellschaften sind die Dinge niemals gleich, immer nur ähnlich und von den Umständen abhängig.

Die Schrift hingegen schafft einen Speicher, der unabhängig von einem Menschenleben weiter existiert. Sie ist eindeutig und es gilt fortan, was geschrieben steht. Flüche und Zaubersprüche werden mehr und mehr zu Schall und Rauch. Orale Gesellschaften sind deshalb auch konservativer als literalisierte. Neue Ideen sind immer eine Gefahr, weil sie alte Ideen ersetzen und nicht neben ihnen bestehen können. Man kann sich in oralen Gesellschaften schlicht nicht mehr als eine Version der Wirklichkeit erlauben. Oder anders gesagt, Dialektik muss man sich erstmal leisten können, und das gilt gleichermaßen eben auch für die Logik.

Ong führt weitere Eigenschaften oral begründeten Denkens und Sprechens auf, wie zum Beispiel den additiven Charakter. Die Schöpfungsgeschichte der Genesis ist ihrer ursprünglichen Form nach eine mit “und” verbundene Aneinanderreihung von einfachen Tatsachen. Schachtelsätze, die den gleichen Sachverhalt viel kompakter schildern könnten und in neueren Darstellungen auftauchen, sind ein Ergebnis der Schrift.

Orale Formen sind auch immer redundant, brauchen das Mittel der Wiederholung, um sich an die Information immer wieder neu erinnern zu können.

Mir fällt dabei als Beispiel das Kinderlied “Ein Schneider fing’ ne Maus” ein, das aus naheliegenden Gründen mein Lieblings-Einschlaflied für unsere Kinder war. Die Geschichte, um die es da geht, wäre in zwei Sätzen zusammengefasst, aber wenn ich das jetzt spontan aufschreiben sollte, müsste ich es wahrscheinlich kurz im Kopf durchsingen, um mich an alles zu erinnern.

Orale Kulturen sind  auch eher einfühlend und teilnehmend statt objektiv-distanziert. Sie besitzen eben keine “vom Schreiben abhängigen analytischen Kategorien, die das Wissen aus der Distanz zur gelebten Erfahrung strukturieren könnten”, wie Ong an einer Stelle ausführt.

Dies und anderes führt zu einem letzten Punkt, der hier erwähnt werden soll, nämlich dass orale Gesellschaften “homöostatisch” sind, was bedeutet, dass sie immer um ein Gleichgewicht der Gegenwart bemüht sind. Es sind Gesellschaften, in denen alles, was keine Relevanz mehr für dieses Gleichgewicht hat, vergessen oder der Ökonomie wegen sogar aktiv verdrängt wird. Die Bedeutung eines Wortes wird nicht in einem Wörterbuch definiert und verifiziert, sie muss sich im täglichen Gebrauch beweisen, sich in das aktuelle System einfügen oder verschwinden.

Selbst Genealogien und die eigene Geschichte sind in oralen Gesellschaften nicht stabil, sie passen sich stattdessen über die Zeit immer wieder an die Erfordernisse der Wirklichkeit eines Jetzt an, das geschlossen und konsistent sein muss. Die historische Integrität der Vergangenheit werde, so Ong, den Erfordernissen der Gegenwart geopfert.

Dies sei nur ein kleiner Blick in dieses für alle an Sprache und Schrift interessierten Leser empfehlenswerte Buch. Ongs Erläuterungen gehen noch deutlich tiefer und er betrachtet im weiteren Verlauf beispielsweise auch den Buchdruck und das digitale Zeitalter.

Was aber vielleicht klar wird, ist, wie relativ Bedeutungen, Schlüsse oder gar Wahrheiten sind, wenn man sich ihrer sprachlichen Grundlage und Natur bewusst bleibt. Selbst die Logik, mit der Dialektik zusammen eine der sieben freien Künste, ist kein universelles Prinzip, sondern aus der Schrift entstanden – und diese ermöglichte halt vieles von dem, was sich orale Gesellschaften nicht leisten können, wie eben das Entstehen einer Logik, die unabhängig vom Menschen operieren und fortbestehen kann, weil sie die Schrift als Speicher besitzt.

Wissen muss nun nicht mehr behalten werden und die freiwerdenden Ressourcen des Geistes können sich mit Anderem beschäftigen, der Analyse von Aussagen, der Diskussion eines Für-und-Wieder, einer formalen Art, Schlüsse zu ziehen.

Auch die Schrift kam wie schon gesagt nicht aus dem Nichts, sondern entstand aus der gesprochenen Sprache, die – als System verstanden – als Paradebeispiel für das Abhängige Entstehen gelten kann. Es sei hier an Roman Jakobsons Phonologie und den kindlichen Spracherwerb erinnert.

Die Logik ist somit ebenfalls abhängig entstanden, Teil des Samsara und befleckt.

Man kann sich also nicht allein auf sie verlassen, auch grundsätzlich nicht und in keiner Diskussion. Nur weil etwas logisch ist, ist es ja nicht gleichzeitig auch automatisch gut. Es ist sogar auf eine gewisse Weise nur richtig im Kontext der Schrift und der mit ihr einhergehenden Art des Denkens. Und beide – Logik und Schrift – gaukeln uns letztlich etwas vor. Denn die Welt “an sich” bleibt ihrem Wesen nach gleich. Ob wir über sie reden, schreiben oder unsere Schlüsse ziehen, es ändert nichts an den zwei Wirklichkeiten, der konventionellen auf der einen Seite und der endgültigen auf der anderen. Die Art und Weise, wie wir das tun, ändert hingegen alles an unserem Verhältnis zum Gegenüber, an seiner Wahrnehmung unserer Person.

Selbstverständlich ist die Logik in der konventionellen Wirklichkeit des Samsara ein unverzichtbarer Begleiter, gerade auch für uns Buddhisten, weil ohne sie kommen wir auf unserem Weg der Weisheit nicht weit. Sie reicht aber nicht aus. Sie ist ein Instrument der Erkenntnis, nur ein Hilfsmittel auf dem Weg und ein Vehikel, das wir eines Tages stehen lassen müssen.

Denn eine unbefleckte, gültige Erkenntnis braucht eben das vollständige und gleichzeitige Zusammenwirken von Weisheit und Methode, und der Verdacht liegt nicht fern, dass Schrift und Logik uns vermutlich ein Stück weit von ihr entfernt haben.

Die Schrift schafft Distanz und gibt uns wie kaum etwas anderes die Möglichkeit, in Zukunft und Vergangenheit zu leben. Das bei sich und im Augenblick sein ist die Ausnahme, nicht Grundannahme der persönlichen Existenz wie in oralen Gesellschaften, und so braucht man Wochenendkurse und viel Disziplin, um diesen Zustand von Zeit zu Zeit wieder zu erreichen.

Zurück zur Diskussion am Küchentisch, in Beruf oder Politik. Auf logischen Argumenten zu bestehen, ohne sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, Gedanken und Gefühle nachzuvollziehen, wird erstaunlich oft nicht funktionieren. Das ist kein Skandal, sondern hat Gründe, die sich bis tief in die Entwicklungsgeschichte des Menschen zurückverfolgen lassen. So schön ein Syllogismus sein mag, er würde auch mit Sätzen funktionieren, die mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun haben, er ist in diesem Sinne potentiell lebensfern, und das merkt man bisweilen auch. Im Kern bleibt, dass man sich immer nur zusammen einigen kann. Logisch gesehen kann man Recht auch alleine haben, aber wem nützt das ?

Und falls es mal total eskalieren sollte und gemeinsames Meditieren kein realisierbarer Vorschlag ist, wie wäre es dann damit: Statt mit Worten zu diskutieren, singen sie doch einfach gemeinsam ein Lied oder gehen Sie zusammen tanzen, joggen, spazieren und bedienen Sie sich all der Ausdrucksformen, die aus unserer nicht literalisierten Vergangenheit kommen. Ihnen fallen da sicher noch mehr ein.

Sie mögen sich dadurch vielleicht sogar ein wenig an eine Welt erinnern, die anders war, nicht unbedingt nur besser: Denn in dieser Welt gab es noch Monster unter dem Bett, aber auch das Vertrauen, dass die Welt ein Kreis ist und nicht eine Linie, wie die Schrift, die keinen Anfang und kein Ende hat.

Eine Welt, die statt klar und kühl, eben magisch und warm war. Und das kann, wette ich mal, so manchen Konflikt lösen und vielleicht sogar eine Saite zum Klingen bringen, die an das ferne Land jenseits der Sprache erinnert, in dem wir eigentlich alle zu Hause sind.   

Literatur:

Walter J. Ong, Oralität und Literalität – Die Technologisierung des Wortes,

Westdeutscher Verlag 1987

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